Loop

Von Yvonne Maier

Er ist immer da. Er wartet. Er sitzt auf der Drahtgitterbank am U-Bahnhof und die Bugwelle, die aus dem dunklen Tunnel weht, wirbelt Flusen um seine polierten schwarzen Lederschuhe. Er trägt einen anthrazitfarbenen Dreiteiler, ein weißes Hemd. Seine Fliege schimmert dunkelblau. Auf seinem Schoß liegt ein schwarzer Filzhut.

Ich eile an ihm vorbei, höre einen Podcast. Heute frage ich mich, wie oft ich an ihm vorbei gehetzt bin, ohne ihn zu sehen. Tage, Wochen, Monate wahrscheinlich. Die Bahn quietscht in den U-Bahnhof hinein, die Türen öffnen sich und ein Schwall Menschen drängelt sich an mir vorbei. An ihm vorbei. Um ihn herum ist eine Insel aus Ruhe. Er liest kein Buch, er hört keine Musik. Er wartet.

Als ich ihn das erste Mal sehe, wirklich sehe, ist nichts besonderes passiert. Der Akku meiner Kopfhörer ist alle, ein kleiner Alarmton tropft nach unten in mein Ohr, bingbingbing, der Podcast über die aktuelle US-Politik stoppt. Mein Blick wandert mit einer seltsamen Dringlichkeit durch den U-Bahnhof. Und fällt auf den Mann im anthrazitfarbenen Dreiteiler und Filzhut. Der Mann inmitten eines Ozeans von Menschen, die in ihre Welten versunken sind, in ihre Smartphones blicken, Musik und Podcasts lauschen. Oder Hörbücher hören. Einige wenige telefonieren. Die Bugwelle der einfahrenden U-Bahn erfasst sie alle. Mein Blick landet auf dem Gesicht des Mannes, seine Haare bewegen sich nicht im Luftstoß. Als befände er sich im Auge des Sturms, in kompletter Windstille. Seine Augen erfassen meine. Ein kurzer Moment nur, doch alles um mich herum scheint sich zu beruhigen, der Wind, das Rauschen, die Menschen. Ich halte die Luft an, mein Herz klopft. Ich habe das Gefühl als hätte er auf mich gewartet.

Ich drehe mich abrupt um und eile mit den anderen in die U-Bahn. Warme Körper umschließen mich, die Türen piepsen zu. Ich wage einen Blick hinaus. Ein Lächeln auf seinem Gesicht, seine Augen halten mich noch ein paar Sekunden gefangen. Dann Dunkelheit vor dem Fenster.

Seitdem ich ihn gesehen habe und er mich, entkomme ich seiner Präsenz nicht mehr. Ich spüre seine Anwesenheit, sobald ich die Rolltreppe betrete, wenn ich am anderen Ende des Bahnsteigs stehe, wenn ich zu anderen Zeiten fahre, ja sogar wenn ich stattdessen den Bus nehme und nicht hinabsteige zur U-Bahn. Manchmal habe ich das Gefühl, er lacht ob meiner Manöver, ihm aus dem Weg zu gehen. Tage, Wochen geht das. Ich weiche seinem Blick aus. Es ist nicht so, als hätte ich Angst vor ihm. Er wirkt nicht bedrohlich, aber er wirkt, als wäre er nur wegen mir hier, jeden Tag auf der Drahtgitterbank in der U-Bahnstation und ich wage nicht herauszufinden, warum das so ist. 

Es ist Herbst geworden mittlerweile, ich steige hinab in die Tiefe, die Übergangsjacke und der Schirm nass vom Regen. Ich spüre seine Präsenz und es ist das zweite Mal, dass ich ihn wirklich anschaue. Da sehe ich etwas, das so offensichtlich ist, dass ich es kaum fassen kann, dass ich das übersehen konnte. Vielleicht ist es genauso unfassbar, wie der Umstand, dass ich ihn überhaupt so lange übersehen konnte. Er trägt immer denselben Dreiteiler, dieselben polierten Schuhe. Den Filzhut. Entweder hat er hundert gleiche Kombinationen davon im Schrank oder er trägt immer dasselbe. Immer dasselbe. Ich spüre sein Lachen, das lautlos den U-Bahnhof erfüllt, als ich über die nächsten Tage und Wochen versuche, unauffällig herauszubekommen, ob es wirklich immer dasselbe ist, was er trägt. Der Herbst kommt und geht.

Heute fällt der erste Schnee des Jahres. Wie eine Decke legt er sich über die geschäftige Stadt. Ich stapfe zum U-Bahnhof hinab und schüttle meine Mütze aus. Dann stehe ich unvermittelt vor ihm. Wir blicken uns an. Er lächelt.

„Guten Morgen“, sage ich.

„Guten Morgen“, antwortet er. Seine Stimme passt zu seinem Äußeren. Zum Dreiteiler und Filzhut. Er klingt elegant und geschmeidig.

„Ich beobachte Sie schon eine ganze Weile“, sage ich.

„Ich weiß.“

Ich setze mich neben ihn. Die Bugwelle warmer und stoffliger Luft wirbelt zu uns hinüber. Piepsen der Türen. Ein Schwall Menschen auf dem Bahnsteig. Ich bleibe sitzen. Ruhe.

„Sie wollen es wissen, oder?“, fragt er.

„Ja“, sage ich.

„Dann müssen Sie mir Ihre Hand geben“, sagt er und reicht mir seine Rechte mit der Handfläche nach oben. Ein feiner Duft nach Seife zieht zu mir hinüber. Ich kann heute nicht mehr sagen, warum ich meine Hand in seine gelegt habe, wenn ich nicht mal seinen Namen kannte. Es ist passiert und es ist das magischste, was mir je in meinem Leben widerfahren ist.

„Lassen Sie uns in die nächste U-Bahn einsteigen“, sagt er und erhebt sich. Ich habe ihn noch nie stehen gesehen, er ist etwa einen Kopf größer als ich. Die nächste Bugwelle zerrt plötzlich an seinem Hosenbein, zerzaust seine Haare. Er atmet die warme Luft tief ein und sein ganzer Körper erstrahlt in Erwartung dessen, was kommt. Meine Hand in seiner, gehen wir zum Gleis. Die Türen öffnen sich, Menschenaustausch von innen nach außen und umgekehrt. Wir mittendrin.

„Wir fahren nur eine Station“, sagt er. Um uns herum Menschen mit Kopfhörern, mit Podcasts in den Ohren, Blicken in Smartphones, Büchern in den Händen. Neben mir ein Mann, aus der Zeit gefallen, im anthrazitfarbenen Dreiteiler, mit Filzhut und polierten Schuhen. In seinem Gesicht entdecke ich einen kleinen Jungen, aufgeregt, als führe er das erste Mal mit der U-Bahn.

Die nächste Station kündigt sich quäkend im Lautsprecher an. Bremsen und Quietschen, piepende Türen. Menschenaustausch von innen nach außen und umgekehrt. Wir stehen auf dem U-Bahngleis. Es ist die Station, die nach der Tunnelfahrt erstmals wieder überirdisch weiter fährt. Um uns herum eilen die Menschen vom Gleis, der Blick wird frei auf die weiße Landschaft, die rosa Morgenluft um uns herum. Ich blicke ihn an. Er hat Tränen in den Augen und atmet die kalte Luft ein.

„Hier war ich noch nie“, sagt er.

„Es war nur eine Station entfernt“, sage ich.

„Es war eine Unendlichkeit entfernt“, sagt er und drückt meine Hand fest. „Vor langer Zeit bin ich in die U-Bahn gestiegen, und jede Station, bei der ich ausgestiegen bin, war dieselbe, in der ich eingestiegen bin.“

„Waren Sie immer an der Haltestelle, von der wir losgefahren sind?“

„Nein, das war eine andere. Es hat eine Weile gedauert, bis ich herausbekommen habe, dass ich eine Station weiter komme, wenn mich jemand an der Hand nimmt.“

„Warum haben Sie so lange gewartet, um mit mir zu fahren?“

„Weil Sie mich lange nicht gesehen haben. Seit die Menschen mit Kopfhörern und Smartphones herumlaufen, ist es schwer geworden, von ihnen gesehen zu werden.“

Mein Atem wandert in meinen Bauch. Tief hinab und tiefer.

„Es ist lange her, dass mich jemand an die Hand genommen hat“, sagt er und lässt los. Tief saugt er die Winterluft in seine Lungen. „Dankeschön.“ Er dreht sich von mir ab und verlässt den Bahnsteig. 

Ich habe ihn nie wieder gesehen.